von Ulrich Rüter
Seit Beginn der Fotografiegeschichte gehören stadttopografische Aufnahmen und Serien zu ihrem festen Bestand. Umso überraschender und erkenntnisreicher sind daher Motive, die den bekannten Kanon vermeintlicher Dokumentation verlassen und mit ungewöhnlichen Ergebnissen nicht nur das Genre der Stadtdokumentation erweitern, sondern vor allem auch das Medium der Fotografie selbst reflektieren. Die Emanzipation der Fotografie von rein dokumentarischer oder bildmäßiger Nützlichkeit ist eine Errungenschaft von großem Erkenntnisgewinn. Ohne Zweifel gehören die Aufnahmen von Michael Järnecke zu dieser innovativen Kategorie einer höchst individuellen und dabei ebenso aufschlussreichen Form der fotografischen Auseinandersetzung mit einem spezifischen Ort. So, wie in der Serie des Fotografen festgehalten, wurde diese kleine Stadt sicherlich noch nicht wahrgenommen. Die Sicht auf Buxtehude ist nicht nur durch die Besonderheit des prozessualen Aufzeichnungsvorgangs singulär, sondern im Zusammenspiel der einzelnen Aufnahmen ergibt sich darüber hinaus eine völlig neue Sichtweise auf die Stadt.
Den Ausgangspunkt hat das vorliegende Projekt in dem Bewerbungsmotiv des Fotografen für den seit 2010 verliehenen Kunstpreis »Künstler und Künstlerinnen sehen Buxtehude« der Hansestadt. 2015 erhielt Järnecke den Preis für seine fotografische Arbeit »Nachtfahrt – Lichttopografische Aufzeichnung des Buxtehuder Altstadtrings / Aufnahmezeit 6 Minuten / Aufzeichnungsstrecke 1,5 km«. Dieser Titel der großformatigen analogen Fotografie, aufgenommen am Abend des 2. Mai 2015, gibt schon viel von der experimentellen Herangehensweise des Künstlers preis, gehört sie doch in ein umfangreiches Feldforschungsprojekt, das Järnecke seit rund 7 Jahren erarbeitete. Für die mit dem Preis verbundene Ausstellung realisierte er in Kooperation mit der Stadt das geförderte Projekt, das hier als Künstlerbuch vorliegt.
Die im Wettbewerb ausgezeichnete Arbeit – im Buch auf Seite 14 – wird bestimmt von unterschiedlich breiten, flirrenden, dunklen Lineaturen, die von den äußeren Bildkanten auf die Bildmitte zulaufen und fast das gesamte Bild dominieren, nur das untere Fünftel wirkt ruhiger. Die prämierte Aufnahme erscheint auf den ersten Blick überraschend abstrakt, doch sie offenbart auch sehr reale Bezüge zum Stadtraum und ist keineswegs eine freie Erfindung des Künstlers. Wie schon im Titel angegeben, wurde innerhalb eines Verlaufs von sechs Minuten eine Wegstrecke von knapp zwei Kilometern zurückgelegt und dabei die Licht- und Objektspuren der vorbeiziehenden Dinge während der Belichtung in das fotografische Negativ eingeschrieben.
Geprintet wurde das Bild dann im großen Format als Negativ-Umkehrung, d.h. die eigentlich hellen Lichtspuren zeichnen sich nun als schwarze malerische Lineaturen ab. In den lichttopografischen Aufzeichnungen seiner Tag- und Nachtfahrten arbeitet Järnecke überwiegend mit schwarzweißem Material, Farbe ist hier die Ausnahme.
Die Aufnahme jedes einzelnen Motivs ist aufwendig. Das gesamte Fahrzeug mutiert zu einem mobilen Aufzeichnungsapparat und das Procedere ist manchmal Teil eines Motivs, wenn beispielsweise die Windschutzscheibe samt Scheibenwischer des Wagens erkennbar wird. Lichtimpulse, die während des Aufnahmevorgangs aufgezeichnet werden, bilden die dominanten Spuren dieses Bewegungsprotokolls. Doch Schicht um Schicht bilden sich auch die topografischen Realitäten der Stadt auf dem Negativ ab, bis sich die prozessuale Aufnahme jeweils zu einem vielschichtigen Bild verdichtet hat. Es entstehen transparent überlagerte Sedimentationen, die nur in Form einer zweidimensionalen Übermittlungsform ihre schöpferische Kunstform offenbaren.
Die Belichtungszeiten der einzelnen Motive unterscheiden sich erheblich, von wenigen Sekunden bis zu 12 Minuten Aufnahmezeiten in der Aufzeichnung der Kleinstadt Buxtehude. In anderen Arbeiten Järneckes, etwa zu einer Großstadt wie Hamburg, können es Zeiten bis zu mehr als einer Stunde sein.
Mit dieser Methode, in Langzeitbelichtungen eine Fotokamera durch die Stadt zu bewegen, hat der Künstler höchst eigenwillige, ungewöhnliche Bildkompositionen entwickelt, die dem Verständnis einer exakten Wirklichkeitsabbildung, ein Anspruch, der bisweilen noch immer gerne der Fotografie unterstellt wird, komplett widerspricht. Zweifelsfrei arbeitet der Künstler mit seinem Werk der verbreiteten Reduktion der Fotografie auf eine Abbildfunktion sehr wirkungsvoll entgegen. Eher betont wird ein malerischer Anspruch der Fotografie. Das Wort Photographie, eingedeutscht Fotografie, ist eine Zusammensetzung der griechischen Wörter phos (Licht) und gráphein (schreiben, aufzeichnen) und daher agiert Järnecke mit seinen lichtbildnerischen Mitteln im wahrsten Wortsinn fotografisch. Er experimentiert, greift ein, verwandelt, extrahiert, komponiert.
Der Künstler erscheint hier als Regisseur. Das Auge der Kamera heißt Objektiv, doch mit diesem Objektivitätsanspruch hat die Fotografie von jeher gearbeitet und gespielt. Jede Fotografie hinterfragt gleichzeitig die angebliche Objektivität aufs Neue. Es ist immer die Auswahl, der Blick, der Eingriff des Fotografen, sein Zugriff auf die Wirklichkeit, die eine individuelle Bildgestaltung hervorbringt. Einzigartig wird die Werkserie Järneckes in der Kombination bekannter bilddokumentarischer Bildmuster mit den individuellen künstlerischen Interventionen, die mit experimentellen und abstrakten Formen den Betrachter immer wieder zu verblüffen verstehen. In ihrer zunächst rätselhaften Komplexität gelingt es dem Künstler, die vermeintliche Logik der fotografischen Technik und die sie begleitende Mediengeschichte erfolgreich aufzubrechen.
Das Festhalten von Bewegung durch eine Eigenbewegung der Kamera durch den Raum, bzw. die Raumzeit lässt denn auch Assoziationen zum Medium des Films zu und belegt die Gemeinsamkeiten von Fotografie und Film. Die Bilder des Lichts, ob nun mit Fotoapparaten oder Filmkameras gefertigt, haben die Wahrnehmung der Welt nachhaltig verändert. Mit der Erfindung der Fotografie vor rund 180 Jahren, die reflektiertes Licht von Körpern und Objekten abbildet, gab es endlich den unwiderlegbaren Beweis von etwas Dagewesenem. Der Film brachte die Bewegung hinzu; er bildet die Dynamik aus der Wirklichkeit in sukzessiven Phasenbildreihen ab. Fotografien stehen für die Wahrnehmung von Erinnerung; Filme für die Wahrnehmung von Bewegung. Järnecke ist mit seinen Arbeiten das scheinbare Paradoxon gelungen, eine faszinierende Symbiose zwischen bewegtem und statischem Bild herzustellen. Dem Künstler gelingt es so, fotografische Bilder zu generieren, die nicht mehr allein der Darstellung konkreter Gegenstände dienen, sondern Lichtzeichnungen und Lichtspuren in einem elementaren Sinn hervorbringen. Somit wird auch der fotografische Zeitbegriff neu definiert, wenn er in einem stehenden Bild im Unterschied zum Film nicht einen Bewegungsablauf vortäuscht, sondern fotografische »Echtzeit« über einen längeren Zeitraum und nicht nur den legendären entscheidenden »Augenblick« im Sinne eines Henri Cartier-Bressons festhält. Nicht der Moment, sondern die Dauer wird in den Motiven Järneckes zum Bild.
Der Künstler erforscht mit seinen flächenbezogenen All-over-Strukturen die Grenzen der dokumentarischen Möglichkeiten der Fotografie. Raum, Strecke und Zeit gehen in seinen Motiven eine sehr spezifische Allianz ein. Er fotografiert nicht einfach seine Motive, er »zeitigt« sie. »Zeitigen« – ein unvertrautes Wort, doch es gibt eine genauere Vorstellung, wie der Prozess der Bilderstellung zu verstehen ist. »Zeitigen« erzählt vom Werden und Hervorbringen, vom Vergehen der Zeit, damit sich etwas entwickelt oder in diesem Fall, sich etwas einschreibt, festgehalten wird. Das Ergebnis unterscheidet sich radikal von unserer Wahrnehmung, das Abbild auf der fotografischen Oberfläche kann kaum mit den bekannten Bildern unserer Erfahrung zusammengebracht werden.
Das Ziel seiner Arbeit ist eben nicht eine exakte Fotografie, sondern ein Bild, das sukzessiv Lichtspuren einer bestimmten Zeitspanne aufgenommen hat und zu einem Bild verdichtet hat. Järnecke überrascht den Betrachter, Bekanntes und Vertrautes neu zu entdecken, sich mit dem Repertoire sichtbarer Wirklichkeit neu auseinanderzusetzen. Dabei bleibt als Hauptmerkmal die mutwillige Veränderung der Wahrnehmung von Raum und Zeit erkennbar, das mit der visuell-konzeptuellen Verwirrung des Bekannten spielt. Der Künstler führt den Blick des Betrachters und eröffnet mit seinen fotografischen Interpretationen neue Ein- und Ansichten auf die Stadt. Die abstrakte Verfremdung des Bekannten ist in den Bildern jedoch nie einfach nur Selbstzweck. Järneckes Werk lebt von der ästhetischen Autonomie, die bei aller durch die präzise Versuchsanordnung eingeforderte Wissenschaftlichkeit, den künstlerischen Ansatz betont. Erkennbar sind noch immer markante Gebäude, Orte, Straßenansichten, ein Kirchturm, eine Stadtmauer, ein Silo, Schilder, Firmennamen. Somit bleibt der Zeugnis- und Beweis-charakter der Fotografie sichtbar, doch der Künstler findet andere Bilder, die neue Geschichten über einen scheinbar vertrauten Ort erzählen können. Sie rufen Erinnerungen an das Bekannte ab, doch der Erkenntnisgewinn beruht auf dem magischen Effekt, die Zeitlichkeit in diese Erinnerung einzuschreiben. So wie sich die Aufnahmen nicht wiederholen lassen, bleibt auch die Erinnerung individuell und wird ständig durch neue Erfahrungen überlagert. Der Titel der Serie bleibt dabei Programm: Wirklich? Buxtehude? Really?